Hörtagebuch
By Roman Stalla
Erkki-Sven Tüür - Ärkamine („Erwachen“)
Die Komposition
Dauer: 35 min Jahr: 2011
Besetzung: Orchester, Chor, Percussions
Text: Juhan Liiv, Ernst Enno, Jaan Kaplinski,
Doris Kareva (estnisch)
Texte aus der Osterliturgie (lateinisch)
Interpretation: Eesti Filhamoonia Kammerkoor
https://www.epcc.ee/en/
Sinfonietta Riga
Daniel Reuss (Dirigent)
Quelle: https://invidio.us
Meine Eindrücke beim ersten Hören
Der typisch nordische Chorklang des Estnischen Philharmonischen Kammerchores lässt mich sofort in die eigenartig, fremde Stimmung von Ärkamine („Erwachen“) eintauchen. Der Titel des Stückes lenkt meine Phantasie in Richtung: Frühling, Winter, Religion, Erblühen, Schlaf, Tod, Jesus.
Ich fühle mich in eine gotische Kirche versetzt, wo eine Auferstehungsliturgie im alten römischen Ritus stattfindet. Zu nachtschlafener Stunde sitze ich hier, auf einer kalten, dunkelbraunen, derben Holzbank, im Mittelgang einer nur schwach beleuchteten Kirche. Die anderen Menschen sind nur schemenhaft erkennbar. Es sind nicht viele, die den Weg hierher gefunden haben.
Nach dem gregorianischen Introitus und den endlos langen lateinisch gesprochenen Texten des Priesters ertönt von der Chorempore nach der ersten Lesung das Graduale Haec dies. Schlaftrunken schweifen meine Gedanke ab. Die Harmonien verschwimmen in der Kirche zu lang anhaltenden, diffusen Klängen über die vom Chor der freudenreiche Tag besungen wird.
Was hat diese Musik, insbesonders dieser Text mit meinem Leben zu tun? Was hat das alles mit dem wirklichen Leben überhaupt zu tun? Ist nicht in der Natur nach jedem Winter eine Auferstehung im Frühling? Der scheinbar ewige Kreislauf löst bei mir archaische Assoziationen aus, ähnlich dem stampfenden Rhythmus des Frühlingsopfers. Bei Erkki-Sven Tüür klingt das aber ganz anders: Das Erwachen wird sehr distanziert aus der dritten Position von (überirdischen) Beobachtern geschildert besser noch: kommentiert. Die gesungene Musik ist stark am Text-Rhythmus orientiert und kling manchmal, als würde ein sehr guter Nachrichtensprecher ein emotionales, romantisches Gedicht vortragen. Aber halt! – Vielleicht liegt das an der inhaltlichen Ferne des estnischen Textes, den ich (noch) nicht verstehe.
Beim Übersetzen des Textes bin ich auf diese Zeilen gestoßen:
Niemand kennt seinen eigenen Namen.
Niemand sieht sein eigenes Gesicht.– Jaan KAPLINSKI
Das hat noch mehr Fragezeichen bei mir ausgelöst: Wer spricht hier? Wer wird hier vom Geschehen ausgeschlossen? Ein Niemand bedingt doch die Existenz eines Jemand, der/die hier dabei ist. Sieht man den Text im Zusammenhang, so ist es beim Erwachen der Natur wahrscheinlich gar nicht nötig, einen Beobachter zu haben. Das Wunder entsteht von selbst, es ist ein ewiger Kreislauf, der sich – unabhängig vom Beobachter – eigenständig wiederholt. Ein Prozess der sich selbst genügt. Ein Möbius-Band ohne Anfang und Ende.
Das Wort Gaudeat („Freue dich“) wird in aufsteigenden polyphonen Linien auskomponiert wie eine Motette der ars nova. Der Gesang steigert sich ins Unermessliche. Die Dunkelheit weicht dem Licht.
Damit bin ich wieder in meiner – inzwischen intensiv nach Weihrauch riechenden – Kirche angelangt. Die letzen Worte des liturgischen Textes Christus resurrexit sind verklungen. Die triumphal besungene Auferstehung Jesu kling leise aus, die Töne verschwinden. Ich sitze als einziger noch in der Bank, ganz allein gelassen. Ich könnte heimgehen, es wäre jetzt eigentlich aus. Es wurde alles gesagt. Meine Gedanken sind jedoch zu aufgewühlt, ich möchte in dieser Stille noch nachdenken, nachspüren, nachfühlen. Wie aus einer unsichtbaren Welt, in einer völlig neuen Tonsprache kommt der reflektierende Schluss an mein Ohr. Eigentlich ein Fremdkörper. Es müsste nicht mehr sein. Es ist entbehrlich? … Wirklich? …
Wundersame Wachsamkeit,
tiefgreifender, klarer Frieden
schlüpft leise in dich hinein.Was Worte nicht begreifen können,
erscheint und schaut auf dich,
den Lehrer des Sehens.Belebend zarte Berührung.
das Rauschen der Bäume durch die Zeiten.– Doris KAREVA
Ablauf
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00:00 Die ersten paar Takte klingen wie das Stimmen des Orchesters. Liegende Akkorde mit gläsernen Streicherklängen. Metallklinger mit Bogen gestrichen erzeugen Obertöne.
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2:27 Änderung auf Holzbläser und dann Choreinsatz mit „Haec dies“ (SA). Die Gesamtstimmung ist sehr ruhig und meditativ.
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4:17 Natur erwacht. Das Motiv („Stimmen“) des Anfangs taucht in den Sängerstimmen auf und wird von den Männern nach oben bis in den Sopran geführt. Flöten mit schnellen Sechzehntelbewegungen. Die Lage des Stückes hat sich in die Mittellage erhellt.
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9:15 ein rhythmischerer Abschnitt beginnt mit akzentuierten Chorstellen und pulsierenden Orchesterrhythmen. Wieder wird die erwachende Natur geschildert. Der Chor ist trotz stampfender Rhythmen meist homophon geführt und tritt in Dialog mit dem Orchester.
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12:15 Männer- **und Damenstimmen im Dialog. Herren geben vor, Damen imitieren.
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12:51 umgekehrt Damen beginnen.
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14:15 Tutti
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15:39 Psalmeinsatz ähnlich wie am Anfang (TB), dazu liegende obertonreiche Streicher.
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16:50 mit dem Einsatz des Metallophons wird der Choral Christus ressurexit im Tutti wh.
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18:01 Damenchor reflektiert den Choral. Im Stile eines alten Satzes, Das Orchester begleitet wie bei einem Rezitativ.
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18:36 Inniger Choral nach dem Sprachrhythmus gestaltet. Ruhiger Duktus, nach innen gerichtet. Zwiegespräch mit Gott.
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19:12 Wh 1. Strophe tutti
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20:34 Choral im Tutti, Orchester spielt mit und bereichert und ergänzt die Harmonien. Stimm-Motiv kehrt wieder.
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22:03 Exsultet ist ähnlich angelegt, wie haec dies. Die Freude der Engelschöre klingt sehr verhalten und distanziert. Es ist eine Art hysterische aber innere Freude, die mit einem Freudenausbruch nicht vergleichbar ist. Gaudeat ist extra vertont (Klavier mit Sustain). Ebenfalls ist es ein entrücktes Freuen, fast unantastbar himmlisch. Regis splendore wird kontrapunktisch und imitatorisch geführt. Es begleiten die tiefen Streicher.
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27:30 Ein Gongschlag leitet das Laetetur ein. Choralartiger Tutti-Gesang.
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30:22 Triumphaler Auferstehungsgesang. Der Sieg des Todes passiert im Zwischenspiel (2.3. Zeile) des lit. Textes).
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33:07 a capella Einstieg Reflexion mit Streichern dazw. Imeline. Homophon geführt, impressionistischer Klang. Streng im Sprachduktus.